Bistümer Essen und Münster sowie Erzbistum Köln veröffentlichen Ergebnisse einer umfangreichen Untersuchung
Essen/Köln/Münster (pbm/sk). In den Bistümern Essen und Münster sowie im Erzbistum Köln haben in den vergangenen Jahren rund ein Dutzend Menschen Vorwürfe erhoben, sie seien Opfer schwerster Gewalttaten mit rituellen Bezügen von Täternetzwerken geworden, denen neben ‚einfachen‘ Priestern inzwischen verstorbene Erzbischöfe, Kardinäle und Bischöfe – auch aus dem Erzbistum Paderborn und dem Bistum Hildesheim – angehört haben sollen. Das Bistum Münster hat im April 2024 die Kanzlei Feigen · Graf (Köln) beauftragt, zu überprüfen, ob es tatsächliche Anhaltspunkte für diese Täternetzwerke gibt. Im Juli 2024 und Januar 2025 haben sich das Bistum Essen und das Erzbistum Köln der Untersuchung angeschlossen. Die Kanzlei hat mit einem Großteil der Menschen, die die Vorwürfe erheben, intensiv gesprochen. Zudem wurde auf Basis der Gesprächsprotokolle und weiterer Akten auch ein aussagepsychologisches Gutachten erstellt.
Die Untersuchung ist nun abgeschlossen und kommt zu den folgenden zentralen Ergebnissen: Im Blick auf die untersuchten Fälle spricht nichts dafür, dass die Beschuldigten die ihnen vorgeworfenen Taten Ritueller Gewalt begangen haben könnten. Die Untersuchung hat keinen einzigen belastbaren Hinweis auf die beschriebenen Vorwürfe Ritueller Gewalt und die beschriebenen organisierten Täternetzwerke erbracht. Allen Betroffenenaussagen ist das vollständige Fehlen konkreter objektiver Nachweise gemeinsam. Als plausible Alternativerklärung für die erhobenen Vorwürfe benennt die Untersuchung mögliche „suggestive Einflüsse von außen, insbesondere im Therapiekontext“. Die in diesen Therapien vertretene Rituelle-Gewalt-Theorie ist für die Kanzlei Feigen · Graf „eine nur scheinbare Erklärung, die den Betroffenen einen Ausweg aus Trauma und Hilflosigkeit vorspiegelt und ihre Lage aus unserer Sicht erheblich verschlimmert hat“.
Diese Einschätzung bestätigt auch das aussagepsychologische Gutachten. Die Fachpsychologinnen für Rechtspsychologie Prof. Dr. Silvia Gubi-Kelm und Dr. Petra Wolf kommen zu der Feststellung, „dass in den vorliegenden Fällen nicht von genuinen Erinnerungen an rituellen sexuellen Missbrauch auszugehen ist. Vielmehr weisen die Informationen über die Entstehung und Entwicklung der Angaben darauf hin, dass die vorliegenden Schilderungen auf Scheinerinnerungen basieren. Die jeweiligen Aussagegenesen sind geradezu prototypisch für die Entstehung und Entwicklung von falschen autobiografischen Erinnerungen.“
Der Untersuchungsbericht der Kanzlei Feigen · Graf kritisiert auch das Wirken der früheren „Beratungsstelle Organisierte sexuelle und rituelle Gewalt“ des Bistums Münster (und von deren Vorgängerstelle) sowie den „Arbeitskreis Rituelle Gewalt“ der Bistümer Essen, Münster und Osnabrück. Die Schließung der Beratungsstelle in Münster im März 2023, deren Mitarbeiterinnen Anhängerinnen der Rituellen-Gewalt-Theorie waren, war – so betont der Bericht – richtig, sie sei aber aus heutiger Sicht deutlich zu spät erfolgt. Denn auch die Arbeit der Beratungsstelle habe ihren Anteil daran, dass die Betroffenen sich immer tiefer in die Suche nach Erinnerungen verstrickt haben.
Zwar ist es aus Sicht der Kanzlei unstreitig, dass es (sexualisierte) organisierte Gewalt im Kontext von Ideologien, Sekten und Religionen auch mit rituellen Bezügen gibt. Ebenso unstreitig gibt es erheblich manipulatives Verhalten von Sexualstraftätern. Jedoch fehlt den Grundannahmen der Rituellen-Gewalt-Theorie – das bestätigen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen auch ohne jeden Bezug zur katholischen Kirche – bis heute jede objektive Überprüfbarkeit: „Sie sind weder wissenschaftlich noch kriminalistisch belegt.“ Zentral für diese Theorie ist die durch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse belegte Annahme, dass Betroffene durch Täternetzwerke im Sinne eines „Mind Control“ und mit dem Ziel der Geheimhaltung der Taten „programmiert“ und kontrolliert werden können. Auch für die damit angeblich verbundenen, gezielt herbeigeführten Spaltungen der Persönlichkeit gibt es keine Belege. An den Betroffenen, so behauptet die Rituelle-Gewalt-Theorie, begingen die Mitglieder der Täternetzwerke schwerste Straftaten: von Vergewaltigungen über erzwungene Schwangerschaftsabbrüche bis hin zu Morden und Kannibalismus. „Hieraus ergibt sich“, so heißt es in dem Untersuchungsbericht, „die offensichtlichste argumentative Schwäche der Rituelle-Gewalt-Theorie – nämlich das Fehlen objektiver Nachweise für die geschilderten Taten und Praktiken.“ Es sei fernliegend, dass solche Täternetzwerke über Jahrzehnte derartige Straftaten begingen und dabei gänzlich unentdeckt blieben.
Im Umgang mit den behaupteten Fällen Ritueller Gewalt kann nach Einschätzung der Kanzlei Feigen · Graf auch das von der Deutschen Bischofskonferenz für Fälle sexualisierter Gewalt 2021 eingeführte Verfahren zur Anerkennung des Leids kontraproduktiv sein. Der in diesem Verfahren geltende Ansatz, den Betroffenen zu glauben und ihre Aussagen nur zurückhaltend kritisch zu überprüfen, sei zwar grundsätzlich richtig. In den behaupteten Fällen Ritueller Gewalt führe er jedoch dazu, dass zum Beispiel die Kosten für (teils jahrelange) Therapien übernommen würden, „die gerade nicht zu einer Verbesserung des Zustands der Betroffenen führen, sondern im Zweifel deren Leid verstärken könnten“. Die Bistümer Essen und Münster sowie das Erzbistum Köln haben daher entschieden, für die Betroffenen weiterhin Therapiekosten zu übernehmen, aber nur von Therapeuten, die nicht die Rituelle-Gewalt-Theorie vertreten.
Hierzu und zum Untersuchungsbericht insgesamt erklärt Dr. Klaus Winterkamp, Ständiger Vertreter des Diözesanadministrators im Bistum Münster: „Wir veröffentlichen den Untersuchungsbericht zur Rituellen Gewalt, um für Transparenz bei dem Thema zu sorgen und um Betroffene künftig besser zu schützen. Ich bin den Menschen, die die Vorwürfe in unserem Bistum erhoben haben, sehr dankbar, dass sie trotz ihrer immensen persönlichen Belastungen gesprächsbereit waren und die Untersuchung so ermöglicht haben. Das verdient höchsten Respekt. Diese Menschen glauben das, was sie berichten. Wir haben keine Veranlassung, ihnen unlautere Absichten zu unterstellen. Wir stellen uns unserer Verantwortung für diese Menschen und möchten versuchen, ihnen über professionelle Therapie-Angebote wirklich zu helfen. Wir hätten diejenigen, die in unserem Auftrag in der Vergangenheit die Rituelle-Gewalt-Theorie öffentlichkeitswirksam verbreitet und die Vernetzung der Vertreter der Theorie gefördert haben, früher stoppen müssen. Insbesondere im Therapiekontext muss aus unserer Sicht künftig alles dafür getan werden, dass die Rituelle-Gewalt-Theorie nicht Grundlage von Therapieansätzen ist.“
Information:
Eine mit Blick auf die Betroffenen anonymisierte, geschwärzte Fassung des Untersuchungsberichts steht online auf https://www.bistum-muenster.de/sexueller_missbrauch